Das neueste Interaktionsprinzip User Engagement (Benutzerbindung)

User Engagement (dt. Benutzer-Engagement) wurde 2019 offiziell als neues Usability-Dialogprinzip definiert. Dabei bleibt offen, ob diese Neuaufnahme wirklich gerechtfertigt und im Sinne unseres Verständnisses von Usability ist. Die sieben „Dialogprinzipien“ gehören seit ihrer Definition in der Norm ISO 9241-10 aus dem Jahr 1996 zum Begriffs- und Arbeitsrepertoire eines jeden Usability-Experten und UXler: Ursprünglich waren das Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Erwartungskonformität, Fehlertoleranz, Steuerbarkeit, Individualisierbarkeit und Lernförderlichkeit.

Ein neues (altes) Dialogprinzip

2006 bekamen die „Interaktionsprinzipien“ eine neue Nummerierung mit Teil 110 der Norm. Mit der Überarbeitung dieser ISO 9241-110 (Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 110: Interaktionsprinzipien), wurden die Dialogprinzipien zuletzt noch einmal maßgeblich überarbeitet. So wurde, neben der Zuordnung der Individualisierbarkeit zur Steuerbarkeit, auch ein neuer siebter Grundsatz eingeführt, die Benutzerbindung oder das User Engagement. Dessen Definition zufolge soll das interaktive System die Aufmerksamkeit des Nutzers erregen und ihn dazu motivieren, es anhaltend und weiterhin zu nutzen.


Abbildung 1: Die neuen sieben Dialogprinzipien

Die Idee des User Engagements ist natürlich nicht neu. Schon in den 90er Jahren wurde offensichtlich, dass Nutzerschnittstellen nicht nur gebrauchstauglich sein sollten, sondern den Nutzer auch einbinden und „engagieren“ sollen. Auch im Zuge des Umdenkens von reiner Funktionalität und Aufgabenerledigung hin zur ganzheitlichen User Experience (UX) verstärkte sich der Fokus auf die Gestaltung angenehmer Nutzungserlebnisse – positive Erfahrungen, die letztendlich den Nutzer in ihren Bann ziehen. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir bei unserer Nutzung interaktiver Systeme völlig in dieser aufgehen können: Wir sind motiviert, wir fühlen uns sicher und im richtigen Maße unterstützt und möchten auch in Zukunft das System benutzen und verbessern. Die Norm empfiehlt zur Erhöhung des User Engagements die drei Aspekte Benutzer motivieren, Vertrauen aufbauen und Benutzerbeteiligung unterstützen. Motivieren kann ein System durch die Erfüllung der Aufgabenerfordernisse, einen respektvollen und sensiblen Umgang mit dem Nutzer und die Attraktivität der Gestaltung. Vertrauen wird durch Sicherheit und Rückmeldung erzeugt. Benutzerbeteiligung entsteht durch Belohnungen, Transparenz und Beteiligungsmöglichkeiten.

Die Einhaltung der Dialogprinzipien stellt klassischerweise die zweite Usability-Stufe Effizienz sicher: Nutzungsprobleme lassen sich als Verletzungen dieser Grundsätze der Dialoggestaltung definieren. Ohne Nutzungsprobleme ist eine produktive Aufgabenerledigung gewährleistet. Nun kann man sicherlich sagen, dass der Nutzer auch zur Nutzung motiviert sein muss. Ohne Motivation wird er wahrscheinlich langsamer oder weniger arbeiten. Vielleicht wird er auch unaufmerksam und macht mehr Fehler. Auch muss er Vertrauen haben, sonst fängt er wegen seiner Bedenken gar nicht erst mit der Aufgabenbearbeitung an oder hält wichtige Informationen zurück. Und langfristig sollte er sich natürlich dafür engagieren, das System und/oder die Nutzer-Community weiterzuentwickeln, um auch in Zukunft Motivation und Vertrauen in die Interaktion zu haben. Aber ist das wirklich immer erforderlich oder gewünscht? Bedeutet mehr User Engagement wirklich in jedem Fall mehr Usability?

Was spricht dagegen?

Zum einen kann man einwenden, dass Aufmerksamkeitsfänger für wirtschaftliche und Marketing-Interessen eingesetzt werden können, ganz unabhängig von den wirklichen Aufgabenerfordernissen – und bestimmt nicht im Sinne des Nutzers. Solche Designs werden auch als Dark Patterns bezeichnet. So kann die Webseite eines Online-Versandhandels sicherlich den Nutzer mit immer neuen Angeboten in ihren Bann ziehen, ohne dass er dadurch seine Aufgabe, das für ihn geeignetste Produkt zu kaufen, effizient erledigen kann. Womöglich ärgert er sich am Ende noch, dass er viel mehr Geld ausgegeben hat, als er ursprünglich wollte und angemessen ist. So könnte also sogar das menschliche Bedürfnis für – und Recht auf – Autonomie verletzt werden. Gerade die Diskussionen um Sucht nach digitalen Anwendungen zeigen, dass übermäßige Beschäftigung nicht im Sinne des Wohlbefindens des Nutzers ist. Und insbesondere im professionellen Arbeitsumfeld sollten viele Systeme nicht unbedingt zur ausgedehnten Nutzung motivieren. Was ist mit systemkritischen Anwendungen, die nur im Notfall bedient werden müssen (beispielsweise in hochkomplexen Systemen wie Fabriken oder Kraftwerken)? Es erscheint einleuchtend, dass Nutzer so viel wie nötig, aber so wenig Zeit wie möglich mit diesen Anwendungen verbringen sollten.

Vielleicht liegt die Fraglichkeit der Legitimität des neu hinzugefügten Interaktionsprinzips ja auch nur an der Definition. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Erlebnis der Einnahme durch das interaktive System gekennzeichnet durch eine breite Palette an Aspekten sowohl des Designs als auch der Nutzererfahrung: Herausforderung, ästhetischer bzw. sensorischer Reiz, Rückmeldung/Feedback, Neuartigkeit, Interaktivität, Wahrnehmung von Kontrolle und Zeit, Gewahrsein, Motivation, Interesse, positive Emotionen. Das erscheint erst einmal sinnvoll im Hinblick auf gute UX. Aber ist das wirklich ein Aspekt von Usability? In der Tat klingen diese Dimensionen eher nach Benutzer“freundlichkeit“ als nach Gebrauchstauglichkeit. Auch wenn der erste Begriff gerne austauschbar mit Usability verwendet wird, geht es bei Usability nicht um ein möglichst freundliches Nutzungserlebnis, sondern um die bestmögliche Unterstützung der Aufgabe durch das interaktive System, um die Tauglichkeit eines Werkzeuges für den Gebrauch. Die Gebrauchstauglichkeit ist vom Kontext der Nutzung abhängig, und in bestimmten Kontexten mag ein Aufrechterhalten der Nutzung weder zielführend oder gewünscht noch überhaupt möglich sein.

User Engagement in der Praxis

Dennoch ist User Engagement im internationalen Verständnis nun offizieller Bestandteil der Usability. Als Usability-Engineers und UXler können wir versuchen, dieses Verständnis mit unserer Praxis zu vereinigen. Wie gesagt kann die Betrachtung motivationaler Aspekte eines Systems sehr hilfreich sein. Wenn der Nutzer im Nutzungstest von der Gestaltung der Technologie sehr abgeschreckt ist oder Bedenken hinsichtlich Sicherheit oder Transparenz äußert, mag eine Kategorisierung des Problems als mangelndes User Engagement manchmal vielleicht zutreffender sein, als die Verortung bei Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit usw. Vielleicht schärft es auch unser Auge und Verständnis für den Einfluss der Testsituation. Könnte es nicht sein, dass der Nutzer nur noch mit den Testaufgaben weitermacht, weil wir Testleiter es so wünschen? In der Realität hätte der Nutzer womöglich schon längst die Arbeit über den Haufen geworfen. In jedem Fall lohnt es sich immer, den Mittelweg zu gehen: Offizielle Beschlüsse und Normen haben ihre gewisse Legitimität, basieren sie doch auf den Beiträgen von Experten. Auch solle man auch als langjähriger Praktiker offen für Veränderungen sein. Dennoch gebührt es sich, auch aktuelle Entwicklungen zu hinterfragen und in den Kontext altbewährter Methoden und gemachter Erfahrungen zu stellen.

Quellen

ISO (2019). Ergonomics of human-system interaction — Part 110: Dialogue principles (ISO-Standard-Nr. 9241-110:2019).
O’Brien, H. L., & Toms, E. G. (2008). What is user engagement? A conceptual framework for defining user engagement with technology.