Individualisierbarkeit

18. März 2005

Eine einheitliche Größe eines Stahlhelms für alle Kopfgrößen passt nur, wenn man beim ersten Mal richtig feste drauf haut – Passt! Schon die Vorstellung tut weh.

Bei Software-Anwendungen gilt die gleiche Beschränkung. Nicht jeder Benutzer ist gleich, die Vorerfahrungen sind unterschiedlich, die Gewohnheiten sind verschieden, die Umgebungsbedingungen ändern sich, die Aufgaben sind andere. Diesen Bedingungen muss die Anwendung angepasst werden können. Schon aus ökonomischen Gründen ist es sinnvoll, Anwendungen so flexibel zu gestalten, dass man nicht die Entwickler auf den Plan rufen muss, wenn sich etwas an den Nutzungsbedingungen geändert hat. Die Zufriedenheit der Benutzer und ihre Produktivität steigen mit angepassten Benutzerschnittstellen. Sie arbeiten lieber, schneller, fehlerfreier.

Die drei Wege der Anpassung

Anpassungen an individuelle Anwendungsbedingungen können auf drei Wegen erfolgen:

  • der Benutzer erhält Unterstützung durch lokale Experten (PowerUser, Servicepersonal), die entsprechende Einrichtungen und Anpassungen in Absprache mit dem Endbenutzer vornehmen,
  • der Benutzer nimmt die Anpassungen mit eingebauten Werkzeugen und Methoden selbst vor,
  • die Anwendung verfügt über Lernmechanismen, über die Anpassungsnotwendigkeiten entdeckt und vorgenommen werden.

Jeder dieser Wege hat Vor- und Nachteile; die Wege können auch miteinander kombiniert werden. Wichtig ist, dass das Ergebnis stimmt und dass der Benutzer die Kontrolle über die Anpassungen behält und nicht hilflos den Änderungen ausgesetzt ist und die Übersicht verliert. Alle drei Wege beinhalten Aufwand in der Entwicklungsphase der Anwendung durch den Einbau entsprechender Werkzeuge und Methoden und Aufwand in der Nutzungsphase der Anwendung durch die Maßnahmen der Benutzer bzw. deren Helfer. Dieser Aufwand muss sich rechnen in direkten ökonomischen Kosten der Zeit und der Qualität und er muss sich rechnen in indirekten Kosten der Vermeidung von Frustration und der Erhöhung von Motivation durch individuell zugeschnittene Lösungen.

Individualisierung kann sich beziehen auf verschiedene Bereiche und Eigenschaften von Anwendungen:

Anpassung von Funktionen

Individualisierung kann die Zu-/Abschaltung von Funktionen beinhalten, so dass die Mächtigkeit der Anwendung angepasst ist an die Aufgaben beziehungsweise den Expertisegrad des Benutzers – expandierbare Menüversionen in zwei oder mehr Ausführlichkeitsstufen sind ein einfaches Beispiel. Die Erweiterung des Funktionsspektrums kann sehr weitgehend verstanden werden. Wenn der Benutzer durch Makrogenerierung oder Entwicklungssprachen (Scripts) eigene Funktionen erzeugen kann, befindet er sich in dem gegenwärtig stark diskutierten Feld der Endbenutzerentwicklung. Hier wird auf die Eigenkompetenz des Benutzers gesetzt, der sich seine Anwendungsumgebung flexibel gestalten kann, indem er aus bestehenden Anwendungen benötigte Funktionen zu und abschaltet oder untereinander kombiniert.

Anpassung der Benutzungsschnittstelle

Individualisierung kann sich auch auf die Benutzerschnittstelle beziehen. Hier geht es um die Wirkung von Funktionen auf Benutzerdaten, um die muttersprachliche aber auch fachsprachliche Benennung oder grafische Gestaltung von Funktionen oder anderen Interaktionselementen oder um die Organisation und räumliche Anordnung von Benutzerschnittstellen. Sprachliche und fachliche Konventionen in Benutzergruppen können eine bestimmte Benennung von Befehlen oder Merkmalsbenennungen erfordern, die bei der Eingabe oder der Darstellung berücksichtigt werden. Die Zusammenstellung häufiger Funktionen in Werkzeugleisten nach einem dem Benutzer plausiblen Schema kann die Arbeit effizienter machen. Die Ablage von Vorgangsdemonstrationen in einem Anmerkungsfenster kann Hilfen für nur gelegentlich genutzte Funktionen beinhalten.

Anpassungen können sich auch auf die Darstellung von Bildschirmelementen für bestimmte Behinderungen beziehen. Sehbehinderte brauchen größere Schriftzeichen, Farbfehlsichtige nur bestimmte Farbkombinationen.

Wirkungsdauer der Anpassungen

Eine wichtige Eigenschaft der Individualisierung bezieht sich auf deren Wirkungsdauer von Anpassungen. Wenn ich ein Textdokument bearbeite und dabei bestimmte Funktionen aus der Werkzeugleiste im Kopfbereich der Anwendung benutze, dann sind diese Funktionen unter Umständen verschwunden, wenn ich die Anwendung in der nächsten Sitzung mit einer kleineren Fenstergröße öffne. Der sichtbare Funktionsumfang richtet sich hier nach der vom Benutzer gewählten Fensterbreite. Diese Abhängigkeit ist dem Benutzer erst einmal nicht verständlich. „Gerade habe ich die Funktion des Blocksatzes noch gesehen. Jetzt ist sie weg!“ — Dafür ist jetzt die Formatübertragung sichtbar!

Der Grund ist einfach und doch problematisch für den Benutzer: Einstellungen und Darstellungen von Interaktionselementen richten sich in einer Reihe von Anwendungen auch nach der Nutzung des Benutzers. Ein neu genutztes Interaktionselement (hier die Formatübertragung) verdrängt aufgrund begrenzten Platzes ein anderes Interaktionselement (hier die Blocksatzformatierung). Dies soll die Schnittstelle an die Aufgaben und Präferenzen des Benutzers anpassen. Nutzungen sind jedoch sehr schnell wechselnd, so dass bei diesem Anpassungsprinzip eine ständig andere Benutzerschnittstelle entsteht und den Benutzer verwirrt. Durch einen solchen Mechanismus, der in vielen Standardanwendungen (z. B. Office) angewandt wird, entsteht keine Gewohnheitsbildung, die eine vertraute Arbeitsumgebung schafft.

Fazit

Individualisierung ist also ein ebenso nützliches wie sensibles Element. Es steht in direktem Spannungsverhältnis mit der Konsistenz der Mensch-Maschine-Interaktion. Erst mit der Zeit stabilisiert sich der Anpassungsprozess und eine nützliche Konstanz tritt ein. Besonders problematisch ist die Individualisierung bei vorherrschender Gruppenarbeit. Wenn Arbeitsplätze häufig gewechselt werden, wirkt sich die Individualisierung eines Benutzers auf die Arbeitsumgebung des nächsten aus. Hier sind Individualisierungsprofile gefragt, die dem Benutzer eine Umstellung auf seine Bedürfnisse und Gewohnheiten auf einen Schlag ermöglichen.

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