Sozio-Informatik: Die neue und innovative Disziplin an der Uni Siegen

29. Dezember 2011

Wissenschaftler am Institut für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien der Uni Siegen befassen sich neben den klassischen Themen der Wirtschaftsinformatik zunehmend mit dem Aufbau der innovativen Sozio-Informatik. Hier geht es um die Gestaltung von informations- und kommunikationstechnologischen (IKT) – Artefakten unter besonderer Beachtung des soziotechnischen Hintergrunds. Lesen Sie, was Sozio-Informatik ausmacht und lernen Sie das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Landmarke“, beispielhaft als sozioinformatorische Designfallstudie dargestellt, kennen.

Die Sozio-Informatik nutzt Erkenntnisse aus der Sozial-, Wirtschafts-, Rechts-, Kultur und Geisteswissenschaft, empirische Forschungsmethoden sowie informatorische und ingenieurwissenschaftliche Gestaltungskonzepte. Artefakte, die in sozialen Systemen eingesetzt werden, unterliegen nämlich nicht nur formalen Gesetzen der Symbolverarbeitung und ihre Funktionen beruhen nicht nur auf formaler Logik. Berücksichtigt wird auch, dass Menschen das Verhalten von Artefakten deuten und ihre eigenen bestehenden Praktiken bei der Nutzung überdenken und weiterentwickeln. Unterschiedliche Nutzer und soziale Systeme können sich das IKT-Artefakt auf verschiedene Art und Weise aneignen.

Die Frage nach einem neuen gestaltungsorientierten Forschungsparadigma ist noch offen. Voraussetzung dafür ist ein Verständnis sozialer Praktiken und die Erforschung der Interaktion zwischen sozialen Systemen und Artefakten im jeweiligen Kontext. Diese Erkenntnisse sollten dann auf andere Kontexte übertragen werden. So entsteht ein neues Forschungsfeld, da kein anderes der angewandten Informatik diese Aspekte vereint.

Insbesondere mit Designfallstudien ist es möglich, die Wechselwirkung von innovativen technischen Artefakten und ihrer sozialen Praxis zu untersuchen. Designfallstudien sind dreigeteilt. Zunächst wird eine Vorstudie durchgeführt, bei der bestehende soziale Praktiken in einem bestimmten Anwendungsfeld analysiert werden. Auf Grundlage dieser Analysen werden mit den Benutzern innovative Designlösungen erstellt und anschließend die Nutzung der Artefakte in ihrer realweltlichen Umgebung über längere Zeit untersucht und dokumentiert.

Anhand des „Landmarke“-Projekts der Uni Siegen und ihrer Projektpartner lässt sich eine Designfallstudie beispielhaft darstellen. Hier wurden fĂĽr Feuerwehrleute Designlösungen zur NavigationsunterstĂĽtzung in brennenden Gebäuden entwickelt, da es im Brandfall durch den starken Rauch und die Hitze zu Orientierungsschwierigkeiten kommen kann und so die Feuerwehrleute das brennende Gebäude nicht mehr rechtzeitig verlassen können.
Zum umfassenden Verständnis der Problematik wurden zunächst die existierenden Navigationspraktiken mit den Feuerwehrkräften analysiert. Interviews, Workshops, teilnehmende Beobachtung während der Einsatztrainings und ethnographische Methoden dienten der Identifikation relevanter Kontextfaktoren.

Ethnographische Methoden finden auch im Usability-Engineering im Rahmen von Kontexterhebungen ihre Anwendung: mit ihnen ist es möglich, den Menschen in seiner natürlichen Umgebung, wie hier an seinem Arbeitsplatz, bei seiner alltäglichen Arbeit zu beobachten und so herauszufinden, wie er bestimmte Ziele erreicht.

Im folgenden Participatory-Designprozess (bei dem angehende Nutzer in den Designprozess einbezogen werden) entstanden unterschiedliche Prototypen, sodass bestehende Praktiken der Einsatzkräfte unterstützt werden konnten und neue Praktiken entstehen konnten. An dem Prozess beteiligten sich sowohl Feuerwehrkräfte unterschiedlicher Hierarchieebenen als auch Experten „aus der die Feuerwehr ausrüstenden und der ubiquitäre IKT-Lösungen entwickelnden Industrie, einer Feuerwehrschule und verschiedenen Forschungsinstituten“.

Gespräche mit Feuerwehrkräften verdeutlichten, wie komplex die verschiedenen Einsatzformen sind und wie bisher technische Artefakte eingesetzt wurden.
Die gewonnenen Ergebnisse zeigen, dass Navigationspraktiken in Einsätzen ,,eine kollektive Leistung bzw. Kunstfertigkeit voraussetzen, bei denen technische Unterstützung nur ein relevanter Bestandteil ist, aber nicht der einzige“.
Der Einsatz der Prototypen offenbarte, dass eine automatische Erkennung von inneräumlichen Karten der Gebäude nicht sinnvoll ist, da sie nicht an bestehende Navigationspraktiken anknüpft. Folglich wurden Technologien entwickelt, mit denen man situationsspezifisch Örtlichkeiten und deren Gegebenheiten aufzeichnen kann. Es entstanden die sogenannten Landmarken (Prozessoren in Unterlegkeilen), mit denen man navigations- und einsatzrelevante Informationen ablegen kann. So entstanden nutzerorientierte IKT-Artefakte, die für den Einsatz bedeutsame kollektive Konstruktion von Räumen unterstützen.

Die durch die Forschungsmethoden der Sozio-Informatik entstehenden Ergebnisse sind erst einmal sehr kontextspezifisch. Unklar ist noch, inwieweit diese Ergebnisse auch allgemein gĂĽltig sind und wie eine angemessene Theoriebildung aussieht.
Dazu mĂĽssen mehrere Designfallstudien aus verschiedenen Bereichen der angewandten Informatik gesammelt und untereinander verglichen werden, um daraus bedeutungsvolle Konzepte abzuleiten.

http://www.uni-siegen.de/fb5/wirtschaftsinformatik/index.html?lang=de

Originaltitel: Sozio-Informatik
Autor(en): Rohde, M.; Wulf, V.
Journal: Informatik Spektrum
Band: 34 (2011)
Heft: 2
Seiten: 210 – 213

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